Sind wir die ganze Zeit falsch mit Frühchen umgegangen?

Wenn ein Leben zu früh beginnt

Foto von Anna Shvets von Pexel

Frühchen: Wenn ein Leben zu früh beginnt, nämlich vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche, bezeichnet man Kinder als Frühgeburten. Dies betrifft knapp 10% aller Geburten weltweit – auch in Deutschland (Studie der WHO). Sogenannte „Frühchen“ haben durch ihren frühen Geburtstermin unter 260 Tagen Zeit, um auf das Leben und die vielen Umweltreize vorbereitet zu werden, die schon so bald auf sie einwirken. Die Grenze zur Lebensfähigkeit ist theoretisch zwischen der 23. und 25. Schwangerschaftswoche erreicht.

Doch reicht diese Zeit, um genau so funktionsfähig zu sein wie andere (termingeborene) Kinder? 


Extreme Frühgeburten sind die allerhäufigste Ursache für das Versterben Neugeborener. Viele Frühgeburten haben unmittelbar nach der Entbindung, aber auch im späteren Verlauf des Lebens, mit gesundheitlichen Risiken und Beschwerden zu kämpfen, da noch viele Organe unterentwickelt sind. So besteht ein erhöhtes Risiko für chronische Störungen wie verzögerte Entwicklung oder Lernstörungen. Aber auch unmittelbare Gefahren, wie die Ablösung der Netzhaut mit oft vollständiger Erblindung als Folge, liegen vor. Nichtsdestotrotz wächst die Mehrzahl der überlebenden Babys ganz normal auf. Ein ganz besonderes Beispiel ist Frühchen Frieda, die im Klinikum Fulda nach 21 Wochen mit nur 26 Zentimetern und 460 Gramm entbunden wurde. Sie war Europas jüngstes Frühchen bis zu ihrem Geburtsjahr 2010. Noch nie hatte bis dahin ein Baby überlebt, das früher geboren wurde. Rund drei Jahre nach ihrer Geburt (2014) verblüfft Frieda mit einer sogar überdurchschnittlichen Entwicklung.

Wieso tun wir nicht mehr dafür, dass es mehr Kindern so positiv ergeht?

 

Was sagt die Wissenschaft dazu?

Eine Studie von Maitre und Kolleg:innen aus dem Jahr 2020 weist auf einen Problembereich bei Frühgeborenen hin: Reduzierte multisensorische Integration. Zur Wahrnehmung unserer Umwelt nutzt unser Gehirn die verschiedenen Sinne (Hören, Sehen, Tasten, Schmecken und Fühlen). Damit wir effizienter und schneller funktionieren, werden dabei auch Sinne kombiniert. So lässt sich ein heranfahrendes Auto schneller wahrnehmen, wenn wir es nicht nur hören, sondern zusätzlich auch sehen können. Diese Kombination von verschiedenen Sinnen nennt sich multisensorische Integration (siehe Infokasten). Bei Neugeborenen entwickeln sich primäre funktionelle Netzwerke (sensomotorisch, visuell und auditiv) zuerst. Zum Zeitpunkt der Geburt besteht zumeist eine erwachsene Topologie, das heißt dass die neuronalen Netzwerke in diesen Gehirnregionen schon sehr gut ausgeprägt sind. 

Das Forschungsteam untersuchte, ob und in welchem Ausmaß diese multisensorischen Prozesse eine angeborene Fähigkeit sind. Dies würde bedeuten, dass Gehirne von Neugeborenen bereits im Stande zu sind, multisensorische Reize zu verarbeiten und dass sich diese Fähigkeit im Laufe des Lebens durch Umwelterfahrungen verbessert. Gleichermaßen könnten sie jedoch auch ein reines Produkt des Erfahrungslernens durch Umweltreize, also bei der Geburt noch nicht vorhanden sein und sich erst nach ein paar Monaten voller Erlebnisse in der sensorischen Welt entwickeln. Zum Schließen dieser Forschungslücke wurden darüber hinaus folgende Hypothesen an früh- und termingeborene Säuglinge untersucht:

  • Spielen frühkindliche Erfahrungen beim Verbessern multisensorischer Prozesse eine unterschiedliche Rolle für Frühgeborene als für Termingeborene?
  • Können EEG-Daten zur Vorhersage späterer Schwierigkeiten, zum Beispiel bei der Verarbeitung von sozial-emotionalen Reizen, dienen und somit das erhöhte Risiko für internalisierende und externalisierende Tendenzen erklären?

Verkabelte Babys und ein neues Forschungsdesign

Das Neue, das Besondere an diesem Forschungsparadigma ist, dass bislang stark Fokus auf behaviorale Maße (also auf das Verhalten) gelegt wurde (bspw. preferential looking), hier aber die zugrundeliegenden neuronalen Prozesse unter die Lupe genommen wurden. Um der Forschungslücke auf den Grund zu gehen, wurde 61 Frühchen mit 55 termingeborenen Babys verglichen. Zur Untersuchung der Gehirnaktivität wurde den Säuglingen beim Experiment ein Netz aus 128 Elektroden zur EEG-Messung am Kopf angebracht (Hintergrund Elektroenzephalographie: Mittels der Elektroden des EEG's lässt sich Gehirnaktivität in Form von Spannungsunterschieden auf der Kopfoberfläche messen, da Gehirnzellen durch winzige, elektrische Signale kommunizieren). Das Ganze geschah ein bis drei Tage nach der Geburt bei den Termingeborenen und so früh wie möglich, kurz vor Heimkehr in die eigenen vier Wände, bei den Frühgeborenen. Die Säuglinge wurden dann in 50 Versuchsdurchgängen (sogenannte "Trials") zufällig präsentierten, unterschiedlichen sensorischen Stimuli ausgesetzt. Dabei gab es vier Varianten:

  1. ein taktiler Reiz in Form eines Luftstoßes, der aber auch gleichzeitig ein Geräusch erzeugte,
  2. nur das Geräusch aus Variante 1 (diente der Kontrolle des auditorischen Stimulus von Variante 1),
  3. die Präsentation eines „ga“-Lautes, der möglichst wie beim natürlichen Sprechen klingen sollte und
  4. ein multisensorischer Reiz, bestehend aus dem taktilen Reiz in Variante 1 und dem auditorischen Reiz in Variante 3.

Dabei wurden die Reaktionen der Säuglinge mittels EEG erhoben. Zusätzlich füllten die Erziehungsberechtigten 12 bis 15 Monate nach der Geburt das Infant/Toddler Sensory Profile (ITSP) und 24 bis 27 Monate nach der Geburt die Child Behavior Checklist (CBCL) aus.

 

Das ITSP besteht dabei aus 48 Items und beschäftigt sich mit der Frage, wie oft das Kind zuhause auf verschiedene sensorische Reize reagiert. Testwerte unter dem Standardbereich bedeuten, dass weniger sensorischer Input bereits zu einer Reaktion führt – was für eine erhöhte Sensitivität spricht. Liegt der Testwert darüber ist mehr Input für eine Reaktion nötig.

Die CBCL hingegen erfragt internalisierende und externalisierende Verhaltenstendenzen. Internalisierende Tendenzen beschreiben Ängste, Verschlossenheit, sowie depressive oder somatische Beschwerden, externalisierende Tendenzen hingegen aggressives Verhalten oder die Neigung dazu Regeln zu brechen. Allerdings sind beide Verhaltenstypen in der Kindheit mit spezifischer Psychopathologie bei Jugendlichen und Erwachsenen assoziiert.

Infokasten Multisensorische Integration

Mehr als elf Millionen Sinneseindrücke erreichen unser Gehirn pro Sekunde. Es besteht keinerlei Zweifel, dass unser Gehirn zu enormen Leistungen fähig ist, doch elf Millionen sprengen jegliches Vorstellungsvermögen. Stell dir einmal vor, was du jetzt gerade, in diesem Moment wahrnimmst, während du das hier liest. Vermutlich sitzt du auf einem Stuhl, schaust auf den Bildschirm deines Endgeräts, hörst womöglich einige Geräusche um dich herum, riechst schon das Mittagessen? Welche Sinnesorgane sind beteiligt? Welche Reize stechen besonders hervor? Gibt es Sinneseindrücke, die kombiniert werden?

Genau darauf zielt multisensorische Integration ab: Die meisten Handlungen und Aktionen wären nur schwer ausführbar für uns, wenn unser Gehirn nur Informationen aus einem Sinnesorgan bekäme. Um ein „Bild“, in der Fachsprache „Repräsentation“ genannt, seiner Umgebung zu erstellen, braucht es Informationen aus verschiedenen Quellen. Unsere Wahrnehmungssysteme (auditiv, taktil, visuell, gustatorisch) verarbeiten kontinuierlich sensorische Inputs von verschiedenen Modalitäten (Ohren, Augen, Haut usw.) und integrieren diese Informationsströme dann so, dass wir unsere Umwelt als einheitlich wahrnehmen. Die ganzen auf uns „einprasselnden“ Sinnesinformationen werden früh im gesamten Verarbeitungsprozess zueinander geführt und kombiniert. Die dahinter stehende Logik ist dabei, dass das Gehirn auf diese Weise falsche Eindrücke von unserer Umwelt verhindern kann.

Achtung: Abzugrenzen ist der Begriff der multisensorischen Integration von dem der unisensorischen Integration. Letzterer beschreibt die Integration mehrere Stimuli aus ein- und derselben Modalität - ein Phänomen, das unser Gehirn ebenfalls sekündlich zeigt.

Schon mal vom Begriff neuronale Plastizität gehört? Neurowissenschaftler:innen bezeichnen damit die erfahrungsabhängige Veränderung unseres Gehirns (ein:e Klavierspieler:in, der/die auditorischen und taktilen Reizen sehr viel Aufmerksamkeit schenkt, wird verhältnismäßig größere auditive und taktile Hirnareale aufweisen). Interessant ist, dass neuronale Korrelate, also Gehirnregionen, die mit multisensorischer Integration verbunden sind, durch Erfahrung verändert werden können. Über eine Art Feedback-Mechanismus werden den Bereichen, die häufig zusammen auftretende Stimuli integrieren, Signale gesendet. Sie verändern sich dahingehend dass sie zukünftig leichter und schneller diese Reize kombinieren und die Neuronen schneller „feuern“.

Multisensorische Integration zur Erzeugung von Illusionen: Wir alle kennen noch das Bauchredner-Phänomen: Eine Puppe bewegt ihren Mund, wir hören eine Stimme und - insbesondere in unserer Kindheit - glaub(t)en wir, die Stimme gehe von eben diesem Mund aus, auch wenn dieser ja zu einer Puppe gehört, die selbstverständlich nicht sprechen kann. Dahinter steckt multisensorische Integration.

Multisensorische Integration im Alltag: Multisensorische Integration begegnet uns auch dann, wenn wir ein fahrendes Auto sehen und gleichzeitig Motorengeräusche hören - wir integrieren diese Informationsströme und ordnen sie dem Auto zu. Insbesondere in Furcht-Situationen selektiert unser Gehirn automatisch die Reize und periodisiert eine sensorische Modalität über eine zweite. Außerdem funktioniert die Erkennung von Objekten meist über mehrere Sinnesmodalitäten gleichzeitig.

To integrate or to segregate? That’s the question! Aber wann unterscheidet unser Gehirn nun, ob es zwei Reize als voneinander distinkt also ob es sie segregieren, oder eben integrieren soll? Wie zum Beispiel bei zwei Autos: Eines der beiden hupt, das andere fährt bloß schnell und wir erkennen, dass es zwei verschiedene Autos sind. Die Forschung konnten hierzu herausfinden, dass eben diese Entscheidung davon abhängt, wie wahrscheinlich eine oder zwei Quellen der Reize sind - unser Gehirn löst also binnen Millisekunden ein Bayes-Gleichungssystem und entscheidet aufgrund der Ähnlichkeit und dem Timing, mit dem die beiden Reize auftreten, ob sie aus ein- und derselben Quelle kommen.

Das spannendste zum Schluss: Vielleicht mag zunächst der Schluss nahe liegen, dass unser Gehirn manchmal angesichts der ganzen Stimuli aus den verschiedenen Modalitäten verwirrt sein könnte. Aber tatsächlich konnten Experimente mit Nagetieren zeigen, dass sich die Reizdetektion signifikant verbessert, wenn sie Reize aus mehr als einer Modalität verwenden. Sie erkannten den Futterreiz also früher, wenn sie ihn riechen und hören könnten, und reagierten schneller auf ihn. Auch Katzen reagieren akkurater auf Stimuli, die sie auditiv und visuell präsentiert bekommen, als wenn die Stimuli „doppelt“ in einer Modalität präsentiert werden (in etwa visuell - visuell). Die einfache Erklärung dazu ist, dass Stimuli aus verschiedenen Modalitäten unabhängig, aber eben gleichzeitig von den entsprechenden sensorischen Systemen detektiert werden können.

 

Was lehren uns Maitre und Kolleg:innen (2020)?

Zunächst wurde untersucht, ob bei den Säuglingen nicht-lineare neuronale Antwort-Interaktionen auf auditorisch-taktile multisensorische Stimuli festzustellen sind und falls dies der Fall ist, ob darauf eine Modulation in der Antwortstärke und/oder der Antworttopographie (also in welcher Hirnregion welche Aktivität in welchem Ausmaß als Reaktion festzustellen ist) folgt. Letzteres könnte dabei ein Indikator für Veränderungen in der Konfiguration des zugrundeliegenden Gehirnbereichs sein.

Dazu wurden ereigniskorrelierte Potentiale (EKP: die Reaktion des Gehirns auf einen bestimmten Stimulus, gemessen über das EEG) auf multisensorische Stimuluspaare mit summierten EKP der korrespondierenden unisensorischen Stimulusbedingungen verglichen. Summierte EKP sind dabei lediglich die aufaddierten Gehirnantworten auf die einzelnen Stimuli.

Ein Vergleich der Global Field Power (die Aktivität in einer bestimmten Hirnregion, betrachtet über einen gewissen Zeitraum) ermöglichte die Feststellung topographischer Unterschiede. Differenzen von mindestens 20 Sekunden in einer zusammenhängenden Reaktion auf Stimuli wurden als bedeutsame Unterschiede erachtet.

Es zeigte sich einerseits, dass es bei Termingeboren keine Unterschiede zwischen den neuronalen Antworten auf gepaarte multisensorische Stimuli und summierte unisensorische Stimuli gab. (Hintergrund: unisensorische Stimulation bezeichnet die Integration mehrerer Stimuli aus einer Modalität, also bspw. mehrere aufeinanderfolgende auditive Stimuli. Die "summierte unisensorische Reaktion" erhält man also durch Addition der Gehirnantworten auf die einzelnen Stimuli. Multisensorische Stimulation meint die cross-modale Paarung zweier Stimuli). Bei den Frühgeborenen fand man allerdings robuste topographische Unterschiede zwischen multisensorischen und unisensorischen Stimuli. Diese Unterschiede traten zu zwei Zeitpunkten auf (einmal 143-240 Millisekunden nach dem Stimulus und nochmals 258-315 Millisekunden nach dem Stimulus) und deuten darauf hin, dass bei Frühgeborenen distinkte Gehirnnetzwerke auf multisensorische Stimuli reagieren, wofür es bei Termingeborenen keine Evidenz gibt. Somit bestehen Unterschiede zwischen den beiden Säuglingsgruppen. Dies liefert Evidenz für eine sehr frühe Entstehung von multisensorischen Prozessen, die jedoch erst nach der Geburt beginnt. Da die Frühgeborenen kurz vor der Entlassung aus dem Krankenhaus, also eine gewisse Zeit nach ihrer verfrühten Geburt, vor dem eigentlich geplanten Geburtstermin getestet wurden und zu diesem Zeitpunkt bereits Unterschiede zwischen unimodaler und multimodaler Verarbeitung zeigten, weist dies auf eine Entstehung der multisensorischen Verarbeitung auf Grundlage von Erfahrungen mit der Außenwelt hin. Bemerkenswert ist jedoch, dass dies bei Frühgeborenen anders abzulaufen scheint, als bei Termingeborenen, denn bei Termingeborenen werden keine distinkten Netzwerke rekrutiert. Stattdessen scheinen normalentwickelte ältere Kinder und Erwachsene lediglich unterschiedlich stark zu reagieren und nicht in unterschiedlichen Netzwerken.

Im nächsten Schritt wollte man nun herausfinden, ob topographische Unterschiede in Abhängigkeit von den jeweiligen Stimulusbedingungen bestehen.

Dafür wurde ein Multistep Process verwendet, bei dem im ersten Schritt eine hierarchische Clusteranalyse auf alle Säuglinge angewandt wurde. Hierarchical Clustering erfasst die Aktivität aus mehreren sogenannten Seed-Regionen, auch Regions of Interest genannt. Auf Grundlage von Korrelationen können mehr oder weniger vebundene Regionen bestimmt werden und es wird sichtbar gemacht, welche Netzwerke gleichzeitig im Gehirn aktiv sind. Dadurch konnten relativ stabil stattfindende Aktivierungen, in Form von 12 unterschiedlichen Aktivierungszuständen, die die neuronale Aktivität des Gehirns aller Säuglinge zu unterschiedlichen Zeiten beschreiben, festgestellt werden. Einer dieser zwölf Aktivierungszustände konnte der Verarbeitung von unisensorischen und multisensorischen Verarbeitung zugeordnet werden und wird als "Typische Infantile Verarbeitung" bezeichnet.

Modellgrundlage war ein Vergleich der beiden Säuglingsgruppen (Frühgeborene versus Termingeborene), bei dem die Unterschiede in der Reaktion auf die verschiedenen Stimuli des Experiments (multisensorischer Stimulus versus gepaart unisensorischer Stimulus) betrachtet und mit den 12 Aktivierungszuständen verglichen wurden.

Es zeigte sich, dass bei Termingeborenen ein insgesamt adaptiveres Reaktionsmuster als bei Frühgeborenen vorliegt. Zusätzlich fand man heraus, dass einer der Aktivierungszustände (fortfolgend "Map A" genannt) die typische infantile Verarbeitung (TIP) repräsentiert. Die Map A wurde verwendet, um bei den jeweiligen Säuglingen festzustellen, wie "typisch" im Sinne von "normal" ihre neuronale Antwort auf die Stimuli im Experiment war. In diesem Aktivierungszustand fanden sich geringere Aktivierungsmuster bei den Frühgeborenen, was auf untypische infantile Verarbeitung hinweist.

Anhand des nach 12 Monaten durch die Erziehenden ausgefüllten ITSPs wurde deutlich, dass die Stimulusverarbeitung kurz nach der Geburt ein Prädiktor für sensorische Reaktivität ist.

Zu guter Letzt konnte anhand der CBCL-Daten gezeigt werden, dass Kinder, deren neuronale Antworten eher über Map A charakterisiert werden konnten, ein signifikant niedrigeres Risiko für internalisierendes Verhalten hatten. Bei externalisierendem Verhalten gab es dabei keine signifikanten Unterschiede.

So weit, so gut. Und was heißt das jetzt?

Wir halten fest: Es bestehen auffällige Unterschiede in der Reaktion des Gehirns auf multisensorische Stimuli zwischen Termin- und Frühgeborenen zeigten, die auch mit späteren sensorischer Reaktivität und internalisierenden Funktionen und somit behavioralen Problemen über die Lebensspanne assoziiert sind.

Wir möchten kritisch anmerken, dass die Studie ein korrelatives Design nutzt. Daher sind keine Kausalitätsschlüsse zulässig, sondern lediglich Aussagen darüber, dass das Auftreten der einen Variable mit dem Auftreten der anderen Variable einhergeht, aber keine Auskunft darüber gibt, inwiefern die eine Variable die andere beeinflusst oder gar bedingt. Darüber hinaus ist es zwar von Vorteil, dass zwei Messzeitpunkte im Längsschnitt betrachtet werden, aber mindestens ein weiterer Messzeitpunkt wäre wünschenswert. Jegliche Follow-Up Untersuchungen sind wegen des großen geographischen Einzugsgebiets der Proband:innen und dem erschwerten Zugang zu wichtigen Daten der Krankenkasse schwierig zu realisieren. Weitere Kritikpunkte betreffen die geringe Teilnehmerzahl und bislang fehlende Replikation der Ergebnisse.

Zum einen konnte diese Studie zeigen, wie man sensorische und multisensorische Verarbeitung bei Termingeborenen und Frühgeborenen quantitativ mittels hochauflösendem EEG und topographischer Analyse untersuchen kann. Zum anderen ist dies die erste Studie, die Evidenz für die sehr frühe Entstehung von multisensorischen Prozessen bei Säuglingen liefert und darüber hinaus auch einen neuronalen Erklärungsansatz für die Assoziation dessen mit späterer sensorischer Reaktivität und behavioralen Problemen über die Lebensspanne postuliert.

Back to topic - wie gehen wir nun mit Frühchen um?

Inwiefern liefert jene Studie eine Antwort auf die Frage, wie wir mehr dazu beitragen können, die Entwicklung von „Frühchen“ zu verbessern? Zunächst ist die Erkenntnis, dass sich bereits kurz vor der Heimkehr des Säuglings nach Hause Unterschiede zeigen, recht ernüchternd. Problematisch ist, dass Frühgeborene oftmals nach der Geburt im Krankenhaus bleiben müssen und somit atypische sensorische Erfahrungen sammeln – und das über Wochen oder gar Monate. Doch die Tatsache der klinischen Obhut nach der Geburt birgt auch Potential! Gezielte Maßnahmen als Stimulation/Training für Frühgeborene könnten entwickelt und erprobt werden, zunächst insbesondere an Frühgeborenen, die nicht allzu unterentwickelt sind. Darüber hinaus könnte über Regeln betreffend des Besuches und Umgangs mit Frühchen überdacht werden. Vielleicht könnte so erzielt werden, dass sich die Folgen der Frühgeburt hinsichtlich sensorischer Verarbeitung schneller verlieren. Vielleicht würde dies auch das Risiko für internalisierende Tendenzen reduzieren.

Im Vergleich zu anderen Messmethoden, stellt das EEG eine ausgezeichnete Möglichkeit dar, nicht-invasiv Hirnaktivität bei Säuglingen zu messen, da es sich insbesondere für sensorische Funktionen und als Maß für kognitive Funktionalität eignet. Maitre und Kolleg:innen liefern eine wissenschaftlich hochfundierte Grundlage für ein gesellschaftlich relevantes Thema. Wir können nur hoffen, dass auf Grundlage ihres Artikels weitere Forschung angestoßen und die EEG-Methodik weiter ausgefeilt wird.

Wenn wir nicht in unsere Kinder investieren, und Frühgeborene machen nun mal 10% unserer Nachkommen aus, in was investieren wir dann?

 

 

 

 

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Quellen:

Foxe, J. J., Del Bene, V. A., Ross, L. A., Ridgway, E. M., Francisco, A. A., & Molholm, S. (2020). Multisensory Audiovisual Processing in Children With a Sensory Processing Disorder (II): Speech Integration Under Noisy Environmental Conditions. Frontiers in Integrative Neuroscience14, 39. https://doi.org/10.3389/fnint.2020.00039

Fuchs, H. (2019, 01.06.). "Frühchen: Wenn das Leben zu schnell beginnt". https://www.dw.com/de/frühchen-wenn-das-leben-zu-schnell-beginnt/a-48983568. ret. 16.11.2020

Maitre, N.L., Key, A.P., Slaughter, J.C. et al. Neonatal Multisensory Processing in Preterm and Term Infants Predicts Sensory Reactivity and Internalizing Tendencies in Early Childhood. Brain Topogr 33, 586–599 (2020). https://doi.org/10.1007/s10548-020-00791-4

Meijer, G. T., Mertens, P. E. C., Pennartz, C. M. A., Olcese, U., & Lansink, C. S. (2019). The circuit architecture of cortical multisensory processing: Distinct functions jointly operating within a common anatomical network. Progress in Neurobiology174, 1–15. https://doi.org/10.1016/j.pneurobio.2019.01.004

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